Genossenschaft 2.0 – innovative Unternehmensform für gemeinwohlorientiertes Wirtschaften
Wo liegen die Perspektiven für Genossenschaften in der Zukunft und was macht eine "Genossenschaft 2.0" aus? Welche Werte stehen dahinter und welche Möglichkeiten bieten Genossenschaftsgründungen in verschiedenen Sektoren der Wirtschaft und im Non-Profit-Bereich? Und nicht zuletzt: Was tragen Genossenschaften dazu bei, nicht nur Arbeit, sondern unser gesamtes Wirtschaftssystem in Zukunft neu zu gestalten? Diese und andere Fragen stellen sich uns wiederholt in unserem genossenschaftlichen Alltag - Zeit für einige Gedanken und Reflexionen.
Die Anfänge
Die Wurzeln der heutigen Genossenschaften liegen im England des 19. Jahrhunderts. Dort schlossen sich im Jahr 1844 in der Nähe von Manchester 28 Weber zur Rochdale Society of Equitable Pioneers zusammen, der ersten Konsumgenossenschaft, mit höchst fortschrittlichen Prinzipien, darunter die gleichberechtige Teilnahme unabhängig von Arbeit, Religion und politischer Gesinnung und das gleiche Stimmrecht, unabhängig von der Einlage, auch für Frauen. Die genossenschaftlichen Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter*innen nahmen bereits damals den Acht-Stunden-Tag und einen Mindestlohn vorweg. Diese damals gegründete Genossenschaft besteht unter dem Namen „Cooperative Group“ bis heute und umfasst gegenwärtig rund eine Million Mitglieder.
Im deutschsprachigen Raum wiederum gelten Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen als wichtigste Initiatoren des Genossenschaftswesens. Während Raiffeisen auf Basis seines christlich-kooperativen Wertekodexes vor allem im landwirtschaftlichen Bereich Bedeutung erlangte, war Schulze-Delitzsch das genossenschaftliche Pendant im Gewerbe und Handwerk. Ebenso setzte er als preußischer Reichstagsabgeordneter die Rechtsform der Genossenschaft im deutschen Gesetz durch. Schulze-Delitzsch wies auf die Wichtigkeit der Prinzipientreue:
„Genossenschaften, die bis jetzt untergegangen sind, sind nicht wegen irgendwelcher Fehler in den genossenschaftlichen Prinzipien [...], sondern wegen Vernachlässigung dieser Prinzipien zugrunde gegangen."
Tatsächlich laufen Genossenschaften Gefahr, sich herkömmlichen Unternehmen anzugleichen. Das zeigt das Beispiel der 1956 gegründeten Spanischen Mondragón-Genossenschaft. Sie wuchs rasch, doch im Jahr 2007 verzeichnete sie unter den rund 100.000 Mitarbeiter*innen nur noch 40 Prozent Genossenschaftsmitglieder. Bei der Mehrheit handelte es sich um normale Angestellte.
Genossenschaftliche Werte: Freiheit, Ethik, Solidarität
Das Erfolgsgeheimnis eines gemeinsamen Wertekanons ist unter der Bezeichnung „Rochdale-Prinzipien“ bekannt, gilt bis heute und spiegelt sich etwa in den Grundsätzen für Genossenschaften der International Co-operative Alliance (ICA) wider. Dazu zählt neben der politischen und religiösen Neutralität die offene und freiwillige Mitgliedschaft, die demokratische Wahl, Bildungsförderung für Mitglieder, die eingeschränkte Kapitalverzinsung, die wirtschaftliche Mitwirkung der Mitglieder und das Rückvergütungsprinzip. Die übergeordneten Werte beinhalten: Freiheit, Ethik und Solidarität und bestimmen bis heute das Wesen von Genossenschaften. Der oberste Zweck ist stets die Förderung der Mitglieder. Genossenschaften ermöglichen Selbsthilfe (im Falle der Rochdale-Konsumgenossenschaft der Zugang zu günstigen Lebensmitteln), sie sind selbstverwaltet und selbstverantwortlich. Die Mitglieder sind zugleich Kund*innen und Investor*innen.
Die Besonderheit liegt in der Verbindung scheinbarer Gegensätze, nach solidarischen Prinzipien: Das geteilte Eigentum und die Möglichkeit der aktiven Mitbestimmung macht „Betroffene“ zu aktiv Beteiligten, Kund*innen zu Kapitalgeber*innen und vice versa. Das egalitäre Stimmrecht führt zur Demokratisierung der innerbetrieblichen Machtverhältnisse.
Eine alternative Organisationsform für wirtschaftliches Handeln
Viele Genossenschaften vereinen zudem die Vorteile klein strukturierter Unternehmen mit den Vorteilen großer Betriebe, wie das Beispiel der Mondragón-Kooperative zeigt. Dieses kooperative Wirtschaften lässt sich jedoch nicht immer reibungsfrei in die kapitalistische Marktwirtschaft integrieren. Denn der Zugang zu Finanzmitteln über Darlehen und Kredite wird nur eingeschränkt gewährt, wie die Erfahrung zeigt. Der amerikanische Sozialwissenschafter Erik Olin Wright entwarf daher das Alternativmodell einer Kooperativ-Marktwirtschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, dass „selbstverwaltete Kollektive in von solchen Kollektiven dominierte Märkte eingebettet wären […]“ (Wright 2017 (2010): Reale Utopien. Suhrkamp). Genossenschaften bilden große Verbände, die einander unterstützen. Ansätze in diese Richtung finden sich in Österreich in der neuen Genossenschaftsplattform CrowdCoopFunding und auf internationaler Ebene in der globalen Fair.Coop-Genossenschaft.
Die Genossenschaft für Gemeinwohl
Der inhaltliche Anspruch, Geld als Mittel und nicht als Zweck zu sehen, spiegelt sich hier auch in der gewählten Unternehmensstruktur wider. Die Gründer*innen der Genossenschaft für Gemeinwohl machten sich jedoch von Anbeginn Gedanken über die Weiterentwicklung des Genossenschaftsmodells und dessen Anpassung an das Heute, bezüglich Wirtschaftlichkeit und organisatorischer Kultur. Neben dem Förderzweck für die Mitglieder, dem Kopfstimmrecht bei Entscheidungen und der solidarischen Haftung kommen neue Formen der Beteiligung und Entscheidungsfindung zur Anwendung – Stichwort „Co-Creation“, Soziokratie und Entscheidung im Konsent. Sämtliche Gremien der Genossenschaft sind diesen Grundprinzipien verpflichtet.
Genossenschaftliche Solidarität im Trend
Das genossenschaftliche Universum ist heute vielfältiger denn je. Nachdem die globale multiple Krise auch in den westlichen Gesellschaften immer spürbarer wird, erfährt das Genossenschaftswesen als partizipative Unternehmensform neuen Aufwind. Genossenschaften können regionale Wirtschaftskreisläufe gezielt fördern, sind andererseits aber auch global vernetzt und nutzen neue technologische Entwicklungen, was das Modell auch für Ein-Personen-Unternehmen zunehmend interessant macht. Das inhaltliche Spektrum umfasst den Sozialbereich (Arbeitslosengenossenschaften, Nachbarschaftsgenossenschaften etc.), ebenso wie nachhaltige Wirtschaftsformen (food coops), Breitbandgenossenschaften, regionale Fördergenossenschaften oder eben genossenschaftlich Ethikbanken, die sich dem Gemeinwohl verschreiben. Letztere tragen aktiv zur regionalen Wertschöpfung bei, entwickeln alternative Finanzierungsmodelle und fördern Investitionen in Gemeinschaftsaufgaben.
Über das transformative Potential von Genossenschaften und insbesondere deren Breitenwirkung wurde bereits viel spekuliert. Forscher*innen zu Fragen gesellschaftlichen Wandels stimmen überein, dass unser immer unegalitärer werdendes Wirtschaftssystem nach Alternativen verlangt: partizipative, solidarische Organisationsformen müssen aufgebaut, erweitert – und bei Gegenwind entschlossen verteidigt werden.
Foto: Genossenschaft für Gemeinwohl